Gedankenverloren ins Feucht-Warme greifen, ein bisschen bedacht nicht alles schmutzig zu machen, bin ich doch nicht nur nach außen ein sehr sauberer und ordnungsliebender Mensch, doch auch etwas bequem ständig und auf Grund der Zwänge, permanent zu putzen (zu müssen). Aber der Genuss und die Tätigkeit überwiegen doch und es bröselt munter aus den Löchern. Gemischt mit etwas Watte und Füllmaterial aus alten Kissen, die später Fleisch und nun ein Wesen werden, fällt mir Erde auf den Schoß und in die Hausschuhe.
Immer wenn ich Wesen schaffe und ihnen langsam beim Wachsen und vollständig Lebendig-werden zuschaue, muss ich genüsslich grinsen. Später wird man es eventuell nur kurz oder gar nicht anschauen. Aber so viel steckt darin. Nicht nur Gedanken, Gefühle und all das Zeug, dass man doch von einer kunstschaffenden Person doch so oft erwartet, sondern auch Reste, die ich dort verstecke, mitgebe, beerdige, »recycle«. Manchmal denke ich daran, wie es wohl wäre, wenn jemand, kleine, neugierige Kinder oder Archäologen, später einmal meine Wesen aufschneidet und untersucht.
Jetzt ist das Schmunzeln aber auch, weil es eine Art Strafe, oder wie Ivy sagen würde: eine Verschönerung ist. Eine Vervollkommnung.
Es war nass-kalt, meine dicke Jacke, von der ich sagte, sie mache mich aussehend wie ein Schaaf, bis hoch ins Gesicht gezogen und im Nacken das Stirnband treffend, war leicht klamm. Ich hasse Kälte und Nässe, noch mehr die Kombination. Doch heute war alles verzaubert. Das Perlen der Tropfen wirkte malerisch, der Duft und die Farbe der Pflanzen waren trotz angebrochenem Herbst betörend und verführerisch. Die Fülle war einnehmend, ja wirklich im wahrsten Sinne überwältigend auf allen Ebenen – das Glück saß in meinem Herz und meinen Mundwinkeln. Wir waren in Great Dixter! Als Abschluss und doch, im Nachhinein auch merklich für fast alle Begleiter, der Höhepunkt unserer Exkursionswoche in London und der Küste. Schon zuvor war ich begeistert auf dem Plan der Reisestationen einen Garten zu finden. Gibt es doch keine besseren Orte, wohin sich lange Anreisen lohnen. Ich wurde zumindest wirklich noch nie enttäuscht. Doch schlich sich Sorge hinein, dass doch der Herbst und diese vom Wetter eher weniger meinem Wesen entsprechende Insel trist und die Freude entzaubert sein könnte.
Nach den ersten Schritten durch das kleine Tor links neben dem rustikalen Kassenhäuschen war klar, um es mit Alice zu sagen, der Weg durch die Spiegel war immer lohnenswert. Überall trotzten diese wunderbaren heimischen und exotischen Pflanzen in allen erdenklichen und der Phantasie übersteigenden Farben und Formen, Mischungen und Arrangements den Gegebenheiten. Wie ein riesiges Gemälde waren sie dahingemalt vor unsere Füße. So leicht und natürlich wirkend, unter ihrem Antlitz gut versteckend, was es für eine exakte Planung, einem tiefgründigen Wissen und behutsamer, geduldiger Pflege bedarf, diese Schöpfung entstehen zu lassen.
Zier und Nutzpflanzen in enger Gesellschaft, sich vollendend ergänzen. Was für eine Pflanze, welche Arten und Farben, Formen und Wesen werden dich erobern, verschönern, ergänzen, zähmen? Wegen dem nicht gehenden Gedanken an Ivy etwa Efeu? Oder doch etwas Blumigeres, da Farben doch auch zu allem ganz gut passen?
Ranken sollte es schon haben, da sie sich gut um Körper schlingen und auch pflegeleicht schnell wachsen. Wie eine Grundierung im Gemälde stand das nun fest. Auch hier musste ich, ähnlich wie beim Bepflanzen eines Gartens, geduldig sein. Die Nadelstiche, klein und präzise, wuchsen über die Stofflandschaft, verbanden, markierten, formten. Wie beim Verweilen in einem Gartenteil, die Gedanken verlierend und sich ganz in den Kokon des Moments und seiner gebärenden Erinnerungen an Vergangenes und Künftiges, vergisst man doch häufig das Ausmaß des Ganzen. Nach stundenlangem Nähen, »Schaffen« wie man im Süden so treffend sagt, fällt einem beim Zurücktreten erst die Größe des noch zu Bezwingenden auf. Erinnere dich, was du schon geschafft hast! Gib dir Zeit! Und mehr noch: Nimm dir Zeit.
Wir erhielten eine sehr kurzweilige, informative und ausführliche Führung im Spaziergang durch das Anwesen. Vorbei an länglichem Dunkelgrün mit kleinen lila-blauen bis dunkelroten Beeren, feingliedrigem Saftgrün mit buschigem, flauschig anmutenden Gelb; ein winziges, hellblaues Knospenmeer, vor noch kleineren schneeweißen Blüten, zu Seiten eines aufragenden, scheinbar aus wärmeren Regionen kommenden, von dunklen, dicken Blättern umfangenen, hell rot leuchtenden Wunders, das glühend Freude schenkte. Viele der Pflanzen, die doch dem Unwissenden den erstaunten Eindruck vermitteln, sie könnten doch unmöglich in diesen Regionen und Temperaturen überleben, haben einem Geheimnis gleichkommende Fähigkeit in sich. Die uns heute als warm, tropisch und für den Mitteleuropäer oft exotisch anmutenden Regionen, hatten doch vor Tausenden Jahren oftmals andere Witterungsverhältnisse – mit einer Flora, die damals blühend lebte und im Erbgut dieser faszinierenden Geschöpfe bis heute überlebte. Somit zeugen die exotischen Pflanzen, die bei Wind und Wetter auch hier überleben, von einer unvorstellbaren Geschichte, angereichert mit Weisheit, Schönheit, wahre Ehrfurcht einflößend bei diesem Bewusstsein.
Dies im Hinterkopf duckten wir uns unter riesigen Palmen- und Bananenpflanzen, spürten die winzigen Blätter der Bodendecker zwischen den Fingern, rochen das Moos und die feuchten Hölzer gepaart mit Eindrücken hellgelber Ginkoblätter, weiß-grün gestreiften Gräsern, silbernen Nadeln vor kleinen, intensiv-blauen Blüten, die sich zwischen allen Grüntönen durchkämpften an das karge Licht.
Die Faszination und die schiere Befriedigung kleine unscheinbare Samen, da schon in Form, Farbe und Struktur begeisternd, zu säen und langsam zuzuschauen, vom Keimen über das Wachsen, Wachsen, Wachsen, bis hin zu Blüten oder gar Früchten – es ist unbeschreiblich, unvergleichbar. Daher der Entschluss: Samen säen, die Wildblumen, die mir das ganze letzte Frühjahr über den Sommer und manche hartnäckigen bis jetzt in den Dezember die Treue schwuren. Auch das sollst du bekommen.
Urig eigentlich, dass ich aus Zorn, gar aus Rache und mit einem bestrafenden Gedanken begann, mich am Aushöhlen, Stopfen, Stechen, Bestimmen, in die eigene Hand nehmen, labte, und dir nun Tag für Tag, Stunde um investierte Stunde, Geschenke mache.
Vielleicht gebe ich dir nun endlich all das, was du gebraucht hättest um nicht der Mensch zu werden, der mir meinen unwiederbringlichen Schatz gestohlen hat. Zur Hölle mit dir! Oder mit all denen, die Schuld an deinem Werden sind. Besser: Verflucht sind die Umstände!
*
Auch die, die mich meine Tasche behutsam und mit liebevoller Bedächtigkeit an den scheinbar sichersten Ort, vor Zerdrücken und allerlei beschützt, über meinen Kopf auf die Ablage betten ließ.
Zwischen Brüssel-Nord und Brüssel-Mitte hat uns der Blitz getroffen. Ein Schlag durch Mark und Knochen, einmal durch alle Blutbahnen, explodierend, zuerst in der Brust, nach etwas Besinnung dann umso dumpfer im Kopf. Weg! So viel Schweiß wegen dem Passieren des Zolls, dem Verpacken im beengten Jugendherbergszimmer, dass so unerwartet dadurch bereichert wurde, all das Beschützen und Halten während der Bahn- und Busfahrten. Auf sicherem Festlandsboden. Und ganz abgesehen vom schmerzlichsten Punkt: den sechs Jahren, die nun dahin sind. Sechs Jahre waren diese unscheinbaren, kleinen Wesen schon alt. DU hast sie genommen! Nein, nicht nur die unerklärliche, mich immer noch zitternd lassende Scham, da ich die Fürsorge und Pflege, die Überfahrt und anschließende Verteilung versprach und damit, wegen dir, nicht gehalten habe. Wie soll ich das wieder gut machen? Wie kann ich die Schützlinge wiederfinden? Wie? Wie kann ich dich finden und dir klarmachen, was du getan hast?
Wolltest wahrscheinlich das schnelle Geld, etwas »Brauchbares«, etwas zum bereichern. Fraglich, ob du das in meinem größten Schatz gefunden hast.
Siehst du wie unnütz dein Handeln war?
So etwas macht man nicht.
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Nachdem wir die größte Knolle Fenchel, vermutlich unser aller Leben, bestaunt hatten und das Ende des Rundgangs erreichten, verschwand der tüchtige und mit jeder Faser seines Lebens den Pflanzen zugewandte Gärtner in eines der Gewächshäuser, die er über zwei Jahre hinweg im Tausch gegen einen Fahrzeugstellplatz erhalten hatte. Heraus kam er grinsend, beinahe vermute ich, dass dieses Gesicht kaum etwas anderes kennt, und in den Händen hielt er unsere Kleinen. Stolz berichtete er, dass sie sich bei ihnen mit der Vermehrungsmethode durch Brutknöllchen abgemüht hatten. Sie sollen unser Geschenk sein, ein Mitbringsel ohne Preisschild und festzulegenden Wert, immergrün und zukunftsweisend, erhaltend und erheiternd, persönlich und besonders. Unglaublich!
Persönlich war das natürlich genau ins Schwarze. Nicht nur, weil ich die Pflanzen- und Gartenfrau war. Besonders Farn war schon immer, trotz dem schändlichen Unwissen darüber meinerseits, eine große Faszination bei allen Wanderurlauben meiner Kindheit. Ich reimte mir Geschichten über wilde Dschungel, Dinosaurier, Raubkatzen, unbekannte Sprachen, Stätte und Zeiten zusammen, dass ich fast kieksen musste vor Freude, die zarten Wedel irgendwo aufblitzen zu sehen.
Farne, Gefäßsporenpflanzen, die weder Blüten noch Früchte ausbilden, vermehren sich in Eigenregie durch Sporen, mit menschlichem Eingreifen auf drei herkömmliche Methoden: dem Teilen des Wurzelstocks einer schon großen und kräftigen Farnpflanze, das Abschneiden und Einpflanzen von Stecklingen, was nur bei Arten mit oberirdischen Rhizomen möglich ist, oder durch die Geduld und Wissen im Umgang fordernde Methode der Brutknöllchen. Hierbei wartet man zunächst bis in den Spätsommer, bis sich an der Unterseite der Wedel entlang der Mittelrippen die kleinen, oftmals irrtümlich für Schädlingsbefall gehaltenen Brutknöllchen bilden. Man entfernt entweder die Wedel von der Mutterpflanze oder biegt sie lediglich nach unten und legt sie auf die Erde. Sobald die kleinen Knöllchen wurzeln können sie von der Mutterpflanze getrennt werden.
Egal welche der Methoden, die ersten neuen Pflanzentriebe bedürfen ein ganzes Jahr, um das Tageslicht zu erblicken. Je nach Farnart, immerhin gibt es weltweit über 12.000, in Europa ungefähr 170, können sie 10 cm bis zu 10 m (Baumfarn) groß werden. Und all dies noch vor sich, blickten die Kleinen, immerhin schon sechs Jahre alten, uns an. Gar nicht auszumachen, wie viel Pflege, Geduld und Mühe schon in doch noch so ein unscheinbar winziges Wesen geflossen ist. Sie müssten groß sein wie ein Baum, um es zu verkörpern!
Abgesehen von der Artenvielfalt und den damit einhergehenden Farben- und Formvarianzen, der Charakteristika, Aufzucht und der reine Antlitz dieser gefiederten Pflanzen, begeistert mich doch das Wort prähistorische Pflanze am eindrücklichsten. Die ältesten Funde sind über 400 Millionen Jahre alt. Damals bildete die heute oft als reines Schmuckobjekt gestutzte Pflanze ganze Wälder.
Prähistorisch – damit schloss sich auch der Kreis des heute Gelernten und meiner Kindheitseindrücke, bestätigte sich der erhabene Eindruck der Pflanzenwelt und ließ das Geschenk vollendet werden.
Hättest du mich gefragt, gerade mich, ich hätte dir alles gerne und sogar mit einem Lächeln gegeben. Geld, Gegenstände und wir hatten sogar noch Kekse und drei sehr leckere Äpfel. Was aus dem lieben Farn geworden ist? Das haben wir gesponnen, als wir besagte Äpfel aßen. Wachsen sie aus dem Mülleimer, in den sie enttäuscht geschmissen wurden?
Stehen sie auf einer Polizeiwache und wachsen vor sich hin? War der Dieb, warst du ein Pflanzenfreund? War es doch ein weitergereichter und geschätzter Wert? Findet ein grüner Daumen die Kleinen und nimmt sie glücklich mit nach Hause? Egal wo sie sind, ich hoffe sie wachsen, wachsen und gedeihen. Rechtzeitig in griffigem Boden, bevor der Winter mit seinem Begleiter Frost kommt.
Die Vorstellung, dass die Kleinen aus der geöffneten und enttäuscht zurückgelassenen Tasche hinauslugen, sich tastend, zaghaft ausbreiten, Erde auf dem Asphalt, zwischen den Steinritzen suchen, wurzeln und froh sind, dass sie im Schatten und ohne viel Schickschnack glücklich gesund gedeihen können. Langsam breiten sie sich aus, zunächst unbemerkt, dann zum Busch werdend, immer noch angenommen als gewöhnliches Grün im grauen Stadtwald, dann jedoch endlich entfesselt, überwuchernd, letztendlich und endlich übermannend. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Muss man doch unweigerlich an die ruinösen Stadtansichten denken, die ihr gefeiertes Hoch im Klassizismus hatten. Noch stehende, florierende, Städte in der Manier einer antiken Ruine, um Erhabenheit, in gewissen Sinne Beständigkeit, Überdauern der Ideen, Werte und Errungenschaften und auch bloße Erinnerung an etwas Wichtiges zu versinnbildlichen.
Auch auf unserer Reise haben wir solche Werke zu Gesicht bekommen. Sir John Soane sammelte und schätzte sie sehr. Er ließ sogar Modelle anfertigen. Vordergründig immer die Erkennbarkeit und das Überdauern der Stadt und allem was sie repräsentiert. Doch vor allem auf den Malereien immer dabei: die Natur, die sich wieder zu eigen macht, was ihr gehört, ihren Platz und ihr Vorrecht einfordert, unsere Erzeugnisse einverleibt und die wahrhaftig Überdauernde ist!
Soll es der Farn Brüssel gleich tun. Eine innige Umarmung in grün. Beinahe spüre ich das Knistern der Gebäude zwischen meinen Fingern. Ich wünsche ihm gutes Gedeihen.
Wenn ich es, dich, gieße, scheint das linke Auge zu tränen, zu weinen. Ob Freudentränen oder endliche Reue weiß ich nicht. Im Trösten war ich leider immer schlecht und überfordert. Ironischerweise hielt mir das meine Mutter immer vor, dass ich unmöglich zu trösten sei. Vielleicht auch gar keine Ironie. Nur verständlich, dass man ein unverstandenes Konzept auch schlecht annehmen kann.
Genau wie Diebstahl. Und Misshandlung der Natur mit ihren wachsenden Wundern und Schätzen. Das kann man auch nur schweren Herzens hinnehmen, wenn überhaupt. Annehmen auf keinen Fall.
Ich vertraue nun darauf, was mir einmal der Fuchs sagte:
»Es blüht uns, was wir wachsen lassen!«
Polly